KVOST SchauFenster . Masha Svyatogor

VERLÄNGERT bis 29.05.2021

Kuratiert von Maya Hristova & Jewgeni Roppel

Zum Auftakt der kommenden Ausstellung von EEP Berlin und KVOST, die der zeitgenössischen belarussischen Fotografie gewidmet ist, präsentieren die beiden Organisationen eine Ausstellung der Künstlerin Masha Svyatogor (BLR, *1989).

Mashas exzentrischer und schwer fassbarer visueller Stil, gepaart mit ihrem angeborenen Verständnis für den zeitgenössischen belarussischen Kontext, hat die in Minsk lebende Künstlerin in die ganze Welt geführt. Svyatogor gehört zu einer neuen Generation weißrussischer Fotograf*innen, die die Kraft besitzen, die Ambivalenz des historischen Schweigens in greifbare Kunstwerke zu übersetzen. In ihrer neuesten Arbeit „Everybody Strike!“ (seit 2020), eine Fortsetzung ihrer Serie „Everybody Dance!“ (seit 2018), verwendet sie die Fotocollage, die für die Propaganda der frühen Sowjetära charakteristisch war. Dies scheint eine bewusste Wahl zu sein, die den willkürlichen Erfindungsreichtum hinter den visuellen Darstellungen der Arbeiterrevolution offenlegen soll.

„Die Originalbilder sehen motivierend und fröhlich aus; die Menschen auf diesen Porträts sind voller Enthusiasmus und Energie; sie sind bereit für harte Arbeit. Deshalb habe ich diese Menschengruppen und Einzelpersonen in einen anderen Kontext gestellt – Streik, Widerstand und Kampf, bezogen auf die Situation in Belarus nach den Präsidentschaftswahlen.“ – Masha Svyatogor.

Im Entstehungsprozess jeder Arbeit wählt Masha Svyatogor sorgfältig Porträts von Arbeitern aus, schneidet sie aus und arrangiert sie vor einem dominanten roten Hintergrund. Diese Herangehensweise, Individuen aus einer Menge und ihrem ursprünglichen Kontext zu extrahieren, verstärkt noch das Gefühl der grotesken Überhöhung und sinnlosen Euphorie, das den Arbeitern ins Gesicht geschrieben steht. Ihre individuellen Schicksale, wie wir sie heute kennen, gerieten in Vergessenheit. Wie so oft in ihrer Arbeit, dienen die Ausschnitte in „Everybody Strike!“ als Requisiten, während sie sich darauf konzentriert, kraftvolle Parallelen zur aktuellen politischen Situation in Belarus zu ziehen.

Während der Betrachter von der schieren Schönheit und Extravaganz ihres visuellen Stils verschlungen wird, unterstreicht Svyatogor den Eindruck, dass das Bild, das wir von der Revolution haben, wahrscheinlich naiv, idealisiert und unwirklich ist. Dennoch, so argumentiert Pierre Nora in seinem Essay „Zwischen Erinnerung und Geschichte: Les Lieux de Mémoir“, „Das moderne Gedächtnis ist archivarisch. Es stützt sich ganz auf die Materialität der Spur, die Unmittelbarkeit der Aufzeichnung, die Sichtbarkeit des Bildes.“ In ihrem Prozess erinnern wir uns nicht nur an die Vergangenheit, sondern an die Erinnerung selbst. Darin liegt die Tiefe und die Mehrdimensionalität von Svyatogors Denk- und Darstellungsweisen. In ihrer Praxis geht es um die Neudefinition der Begriffe, mit denen die Vergangenheit heute verstanden wird.

Während die ausgestellten Arbeiten spielerisch und scheinbar naiv sind, sind sie von einem klaren Grad der Desillusionierung gegenüber traditionellen Formen der Wissensstrukturierung geprägt. Auch wenn es eine bemerkenswerte Investition in Artefakte gibt, die mit privaten Erinnerungen oder der Massenkultur als Gegenmittel gegen das Schweigen der Geschichte verbunden zu sein scheinen, schafft es Svyatogor, dem Betrachter schmerzhaft bewusst zu machen, wie illusionär es ist, dass ein politisches System den Besitz über die Wahrheit beansprucht.

Wie in der Vergangenheit bleibt das tragische Schicksal der Helden von heute unbekannt. Massenproteste und politische Gefangene zu Hunderten, Schweigen der Medien, Schläge, Entführungen und Folter von Zivilisten – das ist heute, acht Monate nach der umstrittenen sechsten Wiederwahl von Aleksander Lukaschenko, dem ersten und einzigen Präsidenten Weißrusslands seit der Etablierung des Amtes 1994, für die Weißrussen zur Realität geworden.

Maya Hristova / 2021