Kuratiert von Maya Hristova & Jewgeni Roppel / EEP Berlin
Verschiedene Ansätze zeitgenössischen fotografischen Denkens und Forschens mischen sich in der Ausstellung nahtlos mit klassischer Porträtfotografie und laden den Betrachter ein, hinter den westlichen Schleier des Schweigens über die belarussische Kultur und fotografische Tradition zu blicken. Für viele von uns könnte Minsk, das nur etwa 1000 km von Berlin entfernt ist, wie auch Paris, auf einem anderen Kontinent gelegen haben.
Was bringt uns dazu, eine Kultur als vertraut und eine andere als exotisch zu betrachten? Für die eine Sympathie zu entwickeln und die andere in eine Schublade zu stecken? Hinter den Stereotypen von Belarus oder dessen, was die Massenmedien als einen weiteren scheiternden Staat und als die letzte Diktatur Europas präsentiert, erhöht sich der Druck. Der Druck mehr zu erfahren über die Kultur eines Landes, in dem derzeit Massenproteste herrschen, Unterdrückung der Medien, Entführungen und Folterungen von Zivilisten stattfinden.
Während all dies geschieht, suchen wir Trost in der Kunst. Es ist diese neue Generation von belarussischen Künstler*innen, die die Kraft erlangt hat, die Ambivalenz des historischen Schweigens in greifbare Kunstwerke zu übersetzen. Für viele von ihnen bedeutet die Reflexion über die Vergangenheit oft, sich den abgebrochenen Dialog mit der eigenen Geschichte neu vorzustellen und wieder aufzubauen. Es ist Erinnerungsarbeit aus äußerster Notwendigkeit. Und es scheint, dass das Wiedererlangen und Untersuchen der fehlenden Teile des kollektiven Gedächtnisses oft die bewusste Zensur der Gegenwart entlarvt. In der Tat liegt in den Unsicherheiten der Interpretation und der Disjunktion zwischen Vergangenheit und Zukunft die Hoffnung auf Transformation.
Darüber hinaus erweist sich die Aufarbeitung der Geschichte durch den subjektiven Standpunkt der belarussischen Künstler*innen als unschätzbar wertvoll, denn das Persönliche ist in Belarus derzeit in einem viel höheren Maße politisch als anderswo in Europa. Historische Traumata, vergangene und gegenwärtig andauernde politische Konflikte und anschließende Reisen der Vertreibung werden, wenn nicht direkt abgebildet, so doch kontinuierlich reflektiert. Intime Verbindungen zwischen dem Privaten und dem Politischen werden zu Ausgangspunkten für die Auseinandersetzung mit der Erinnerung.
KVOST und EEP, zwei in Berlin ansässige Organisationen zur Förderung der Künste im osteuropäischen Kontext, präsentieren eine Ausstellung, in der die Kuratoren Maya Hristova und Jewgeni Roppel visuelle Codes des Erinnerns und der Wissensstrukturierung in Belarus untersuchen.
Durch das fotografische Medium und die persönlichen Erfahrungen der Künstlerinnen wird ein Dialog der Generationen präsentiert, der zu einem tieferen Verständnis der Multidimensionalität in Belarus verhelfen soll.
Weißes Kleid
Oksana Veniaminova (geb. 1986 in Vitebsk, BLR) hat die Schule für Portrait- und Analogfotografie in Minsk besucht und Dokumentarfotografie an der St. Petersburger Schule für Fotojournalismus und zeitgenössische Fotografie DocDocDoc studiert. Ihre Arbeiten wurden u. a. in The Washington Post, The Calvert Journal und The Guardian veröffentlicht.
Die Fotografin hat sich in ihrer Abschlussarbeit mit dem Thema der Erinnerung von Frauen beschäftigt – insbesondere, mit „Erinnerungen, die rein weiblich sind und nicht im Kopf eines Mannes entstehen können“. Mit den Erinnerungen an Hochzeiten, die für Frauen in ihrer Heimat ein monumentales Ereignis darstellt.
„Der Ehestand dient als Indikator für den Erfolg einer Frau daher hat jeder Gegenstand, der mit diesem festlichen Tag verbunden ist, eine ganz besondere Bedeutung, auch im Nachhinein“, sagte sie. „Das Hochzeitskleid, der Schleier, die während der Zeremonie verwendete Ikone, der Brautstrauß sind von Mythen, Ehrfurcht und Aberglauben umwoben. Der Volksglaube verleiht dem Hochzeitskleid eine mystische Kraft. Um eine glückliche Ehe zu bewahren, muss die Braut das Kleid für immer behalten.“
Veras Jahreszeiten
Tatsiana Tkachova ist eine unabhängige Journalistin, die mit Dokumentarfotografie, Video und Multimedia arbeitet. Ursprünglich kommt sie aus der Region Mogilev (BLR) und lebt derzeit in Minsk. Tatsiana schloss 2014 ihr Studium der Kulturwissenschaften an der Belarussischen Staatlichen Universität für Kultur und Kunst ab, 2016 an der Akademie für Dokumentarfotografie und Fotojournalismus, Fotografika, in St. Petersburg (RUS). Sie unterrichtet Fotojournalismus am Johannes Rau International Education Centre, Minsk (BLR), The Belarusian Association of Journalists, Minsk (BLR). Sie ist u.a. Preisträgerin des World Press Photo 2020. Tkachova arbeitet mit belarussischen und ausländischen Medien zusammen, darunter Takie Dela, The Guardian, Der Spiegel, De Volkskrant, Meduza.io, Esquire.ru, Ostpol.
„Das kleine Mädchen Vera Zenko aus Volozhin verfolgte mit den Augen den Karren, auf dem die Faschisten ihre schwangere Mutter abtransportierten. Sie hatten Mitleid mit dem Kind gehabt und es von der Ladefläche des Wagens geworfen.“ Vera ist jetzt 91 Jahre alt, sie nennt ihr Leben „die letzten Jahreszeiten“ und rezitiert ihre Biografie durch das, was in ihrem Kleiderschrank ist.
Die Garderobe der 92-jährigen Vera aus Waloschyn in Belarus ist elegant und ausgefallen. Für die Fotografin holte Vera die Kleider ihres Lebens noch einmal aus dem Schrank. Der Stoff, aus dem Veras Geschichte gewebt ist, ist durchzogen von Spuren des Glücks, aber auch der Trauer. Sie wirft sich gerne in Schale und kleidet sich extravagant. Die Kleider, die sie trägt, sind so verschieden wie die Facetten ihrer Familiengeschichte.
VEHA-Archiv
Lesia Pcholka (geb. 1989 in Borisov, BLR), Gründerin vom VEHA-Archiv, ist eine Künstlerin und Forscherin. Seit 2012 engagiert sie sich intensiv in der zeitgenössischen Fotoszene in Belarus. Im Jahr 2013 gründete sie den ersten Charity-Laden in Belarus „KaliLaska“, den sie bis 2016 leitete. Seit 2017 ist sie künstlerische Leiterin der soziokulturellen Initiative VEHA, die mit Fotografie von belarussischen Archiven und der Geschichte des Alltagslebens arbeitet. Seit 2020 ist sie Dozentin an der Europäischen Hochschule „Liberal Arts“ in Belarus. Die Ausstellung zeigt eine kuratierte Auswahl von Fotografien aus dem VEHA-Archiv.
Nobody Important, No One Else
Kate Smuraga (geb. 1990 in Vitebsk, BLR) bekam 2014 ihren Abschluss an der Staatlichen Universität für Kultur und Kunst in Sankt Petersburg (RUS) mit dem Fokus auf Kunstgeschichte, Theorie und Kritik. Derzeit lebt und arbeitet sie in Warschau (PL). Sie bekam 2014 den New Generation PHM Grant, war Finalistin beim Grand Prix, Fotofestiwal Lodz (PL) und wurde nominiert bei PHOTOVISA.
Erwachsen werden, weiterziehen und sich mit Veränderungen auseinandersetzen – „Wenn ich meine alten Freunde treffe, sehe ich plötzlich sehr deutlich die Veränderungen, die in uns passiert sind, die Transformationen, die leisen und subtilen Bewegungen der tektonischen Platten in uns selbst …“
In dem Projekt Nobody Important, No One Else erforscht sie den schwer fassbaren Zustand der Zeit und des Individuums – den Moment, in dem die Gegenwart zur Vergangenheit wird; eben jenen Grad der Präsenz der Vergangenheit in jedem Moment des „Hier und Jetzt“. Mit einem gemischten Gefühl von Furcht, Angst und Entschlossenheit schaut sie ihr nahe stehenden Menschen und Dinge an, die sie umgeben. Dabei ist die Fotografie für sie ein Mittel die persönlichen Grenzen von „Heimat“ auszuloten und zu bestimmen, was genau an ihr und ihren Lieben unverändert bleiben kann.
Larisa 2019
Vasilisa Palianina (geb. 1986 in Minsk, BEL) arbeitet mit dem Medium Fotografie, Illustration und Performance. Neben verschiedenen Artist-in-Residencies war sie 2020 Resident bei der Künstlergruppe „Slavs and Tatars“ in Berlin.
Das Projekt Larisa 2019 ist ein Versuch, die Beziehung und das Gefühl zu Ihrer Großmutter mit Erinnerungsbildern, Illustrationen, Animationen und einer Projektion zu verarbeiten und neu zu definieren.
„Im August 2018 ist meine Großmutter Larisa gestorben. Nach ihrem Tod hat sich eine neue Phase in den Beziehungen zwischen uns gebildet. Sie hat begonnen, in unruhigen Träumen zu mir zu kommen. Wenn ich nach Smorgon kam und die Wochenenden mit ihr verbrachte, hatten wir keine Konflikte oder Streitigkeiten. Es gab auch keine Angst und Unsicherheit. Jetzt, zusammen mit den schönen Erinnerungen, gibt es ein Gefühl der Angst und Verwirrung. Dies ist ein Projekt über meine Großmutter, ihre Gegenwart, darüber, eine neue Phase der Zeit ohne sie und mit ihr zu leben.“